Rolfing® erklärt

Die betrachtung der individuellen form


Eine häufig gestellte Frage ist, was eine Rolfing-Behandlung eigentlich von einer anderen manuellen Therapie wie bspw. Osteopathie oder Physiotherapie unterscheide? Um der Antwort näher zu kommen, möchte ich einige wesentliche Merkmale des Rolfings genauer beleuchten und herausstellen.


Ida Rolf formulierte zwei Grundannahmen, die sich direkt auf die Sichtweise des Körpers auswirken: Erstens postuliert sie, dass jeder Körper eine eigene individuelle Form besitze, die sie Struktur nennt. Diese Struktur wird durch das Fasziennetz wiedergegeben, das für die manuelle Arbeit des Rolfers das primäre Kommunikationsmedium darstellt. Zweitens priorisiert Rolf die Bedeutung der Schwerkraft auf die Struktur und auch auf deren Bewegung. Damit die Schwerkraft so effizient wie möglich durch den Körper fließen kann und eine ökonomische Bewegung entstehen kann, sollte die Struktur so angeordnet sein, dass die einzelnen Teile zentriert übereinander stehen. Das Erkennen von nicht optimal zueinander positionierten Körpersegmenten und die Veränderung dessen durch das Ausbalancieren von Spannungen, Zügen und Drücken im Körper ist eine Kernaufgabe des Rolfings.

"Knochen verteilen das Gewicht, anstatt es zu tragen."
- Dr. Ida Rolf


Das Fasziennetz funktioniert nach Rolfs Idee als Container, der den Innendruck aufnimmt und durch die Eigenschaft der elastischen Spannung neutralisiert, sodass ein integres System entstehen kann. Die Knochen dienen dabei entgegen der klassischen Sichtweise nicht als tragendes Element, sondern vielmehr als Abstandshalter, die das Eigengewicht und die von außen einwirkenden Kräfte verteilen (sog. Biotensegrity-Modell). Diese Annahme ist eine Umkehr der klassischen Denkweise, die sich zuerst der Position der Knochen und der isolierten Gelenkfunktion  annimmt, bevor es auf die Bindegewebs- und Muskelebene schielt. Durch Rolfing lässt sich anhand einer Veränderung des Fasziennetzes die Knochenpositionen verändern und somit die Aufnahme und Weitergabe der auf das System einwirkenden Kräfte. Die Eigenschaften der Struktur bestimmen somit die resultierende visuelle Form des Körpers.

Was bedeutet dies nun für die Praxis? Der Rolfer betrachtet den Körper in seiner Gesamtheit und erst im nächsten Schritt in einzelnen Segmenten. Der Übergang dieser Segmente zueinander ist fließend und bezieht sich auf das Individuum und dessen persönliche Funktion und Geschichte des Körpers. Diese Herangehensweise ist eher qualitativer als quantitativer Natur: entgegen der Beweglichkeit eines Gelenks lässt sich die integrierte Bewegung  des Körpers und die optische Erscheinung nur näherungsweise in Zahlen und Daten transferieren. Um die Qualität der Struktur, der Form und schließlich der Bewegung insgesamt zu verbessern, werden wie oben beschrieben die Faszien durch manuellen Reiz (Touch), aber auch Wahrnehmungs- und Bewegungsaufgaben so positiv verändert, dass der Körper natürlicherweise eine bessere, weil effizientere Position einnehmen kann. Segmente, die eher gedrungen und komprimiert erscheinen, erfahren raumgebende und längende Impulse. Andere Bereiche hingegen, die in Relation schlaff oder abgekapselt wirken, werden mehr in den Körper integriert. Beispielsweise kann dies bedeuten, dass bei Menschen, die viel stehen, ein Bein mehr belastet (Standbein) wird als das andere (Spielbein).  So erfährt die Seite des Standbeins häufig eine größere Kompression, wodurch der Raum zwischen Becken und Brustkorb geringer werden kann. Um hier wieder mehr Platz zu schaffen und eine bessere Bewegung zu ermöglichen, wird  der Abstand zwischen den beiden Segmenten mit Hilfe einer Reduktion der faszialen Spannung vergrößert. Die Seite des Spielbeins hingegen könnte mehr Zugehörigkeit zum Rest des Körpers vertragen: Dazu wird auch durch Bewegungsaufgaben die Spannung so aufgebaut, dass im Seitenvergleich eine größere Harmonie entsteht. So können sich die linke und die rechte Körperhälfte gegenseitig in ihren Funktionen unterstützen. Gelingt dies, kann ein angenehmes Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit entstehen, das sich auf die Grundfunktionen unseres Seins bezieht: atmen, stehen und gehen.


Eine Rolfing-Sitzung ist sehr individuell und bezieht sich immer auf die persönliche körperliche Form und Funktion. Dabei geht es weniger um die Unterteilung in gute und schlechte Attribute, als vielmehr um das Erkennen von Erscheinungsmustern mit ihren Restriktionen und Potentialen. Basierend darauf werden gemeinsam weitere Möglichkeiten der Form und Funktion erarbeitet, die eine positive Wirkung im Sinne einer größeren Anpassungsfähigkeit des Körpers mit sich bringen.



März 2024