Der glückliche Fuß
Plattfuß, Hohlfuß, Knick-Senkfuß - die Liste der gängigen Fußdeformitäten in der orthopädischen Diagnostik ließe sich fortführen. Diese Nomenklatur erleichtert die Verständigung in einer einheitlichen Sprache und besitzt insbesondere bei Schmerzsymptomatiken und Problemen ihre Wichtigkeit. Doch wie relevant ist diese Klassifizierung bei symptomfreien Klienten und gibt es vielleicht wichtigere Aspekte eines gesunden, glücklichen Fußes als seine statische Erscheinungsform?
Bereits in vorherigen Blogbeiträgen betone ich die Bedeutung von Bewegung für unseren Körper und skizziere den unstillbaren Bewegungsrhythmus eines lebenden Organismus. Daher erscheint es unplausibel, nur anhand einer statischen knöchernen Anordnung des Fußes auf Fehlfunktionen oder Erkrankungen schließen zu wollen. Interessanter erscheinen zwei Dinge: Erstens - wie mobil ist der Fuß, d.h. wie gut können sich verschiedene Anteile in Relation zueinander bewegen (z.B. Fersenbein vs. Vorfuß); und Zweitens - welche innere, muskuläre Funktion steckt hinter der von außen ersichtlichen Position der Knochen?
Mobilität
Ein funktionstüchtiger Fuß ist mobil und kann sich den äußeren Gegebenheiten anpassen, um die Umwelt vollends wahrnehmen zu können - wir sprechen von einem haptischen Fuß. Dazu sollten die einzelnen Segmente in Relation zueinander, aber auch als Gesamtheit in Relation zum Rest des Körpers beweglich sein. Anhand einer kurzen Erläuterung des Gangzyklus (Fersenaufsatz - Standbeinphase - Push Off) lassen sich einige Charakteristika erläutern. Zu Beginn der Landung des Fußes muss das Fersenbein die in Form des Körpergewichts auftretende Kraft durch die aufsteigende kinetische Kette absorbieren. Dabei steht es durchaus in einer eher nach außen gekippten Position (hohes Fußgewölbe - Hohlfußstatik). Dann rollt der Fuß auf seine gesamte Fläche ab und in der Mitte der Standbeinphase trägt ein Fuß das gesamte Körpergewicht. In diesem Moment darf das innere Fußgewölbe ein wenig nachgeben (platt werden) und die faszialen Züge nehmen die entstehenden Kräfte auf. Im nächsten Moment verlagert sich der Körperschwerpunkt nach vorne, der kommende Schritt wird ausgelöst. Die gespeicherte Energie aus den Faszien unterstützt diese Vorwärtsbewegung in effizientester Weise, die Ferse wird vom Boden abgehoben und der große Zeh verlässt als letztes Element des Fußes den Boden. Er kann dabei wie eine Springfeder wirken.
Zu Beginn einer Rolfing-Session wird neben dem Stand auch stets der Gang beobachtet. Sind unter anderem die oben genannten Phasen erkennbar und fügen sich zu einem harmonischen Bewegungsbild, verliert die Position der Knochen im Stand und damit die unbewegte, statische Fußposition an Relevanz. Eine individuelle, von der vermeintlichen Norm abweichende Form erscheint belanglos.
Funktion
Sollten hingegen einige Phasen und Bewegungen minder ausgeprägt oder verändert sein, rücken die dahinterliegenden Funktionen des faszialen und muskulären Systems in den Vordergrund.
Unbewegte, durch ungeeignetes Schuhwerk eingeengte Füße verlieren an Mobilität und Haptik. Damit einher geht ein Funktionsverlust der dynamisch arbeitenden Struktur (Muskeln, Faszien u.a.). Einige Muskeln ringen darum, dem Körper durch einen stabilen Fuß wenigstens ein solides Fundament anzubieten und erhöhen somit ihren muskulären Tonus - sie werden fest und unbeweglich. Dabei wird insbesondere ihre Möglichkeit eingeschränkt, einer auftretenden Kraft nachzugeben und Länge zuzulassen, wie es beim obigen Beispiel während der Standbeinphase nötig wäre. Der Fuß wird rigide und starr. Häufig ist dies an einer sehr prominenten Ansatzsehne des M. tibialis anterior zu sehen: dieser Muskel liegt an der Außenseite des Schienbeins und sein Ansatz zieht mittig zur Innenseite des Fußes. Ist dieser Muskel dauerhaft angespannt, hält er das Fußgewölbe hoch und verhindert so eine Bewegung der Fußknochen zueinander. Die einwirkende Kraft wird nicht absorbiert, sondern im System gehalten, das wiederum über Kompensationsmechanismen mit diesen umgehen muss.
Die manuelle Arbeit am Gewebe kann dabei den Tonus der Muskulatur senken und die Gleitfähigkeit des Fasziennetzes erhöhen. Durch gezielte Bewegungsaufgaben und taktile Reize können die ursprünglichen Funktionen der einzelnen Muskeln wiederhergestellt werden, sodass aus dem Inneren heraus eine effizientere und sinnvollere Bewegung des gesamten Fußes entsteht. Der Körper tritt in eine bessere Interaktion mit der Schwerkraft und die resultierende Bewegung erscheint effizienter, freier und harmonischer.
“Instead, flat feet should bei considered as healthy anatomical variants.(...) It is time to shift our perspective and approach regarding the significance of flat feet, acknowledging their natural diversity in the context of overall foot health.” - Moisan et al. 2023
Es geht nicht darum, verschiedene Professionen gegeneinander auszuspielen. Jedoch lohnt sich häufig ein Blick hinter die Fassade einer medizinischen Diagnose, um am wirklichen Ursprung agieren zu können. Rolfing lässt diesen tiefergehenden, ganzheitlichen Blick zu und versteht den menschlichen Körper als sich stets bewegendes und veränderndes System.
Literatur: Moisan, G. et al. (2023) British Journal of Sports Medicine, Vol 57, No 24, p. 1537.
April 2024