Die Kunst des Loslassens

Bewegung durch Entspannung geschehen lassen


Wir können in unserem Körper über 650 Muskeln definieren, deren essentielle Aufgabe darin besteht, unseren Körper zu bewegen. Dabei wird Bewegung häufig mit einer aktiven Verkürzung eines entsprechenden Muskels assoziiert: Möchte ich beispielsweise  einen Schritt machen, hebe ich ein Bein durch die Kontraktion des Hüftbeugers nach vorne an. Bewegung und Anspannung sind demnach miteinander verbunden. Wie wäre es nun aber, wenn Bewegung nicht aus Anspannung, sondern aus Entspannung entstehen könnte?


Grundsätzlich ist für Bewegung Energie nötig. Diese Energie kann auf zwei Wegen zugänglich gemacht werden: Durch metabolische Energie als Folge des Stoffwechsels der Körperzelle, resultierend in einer aktiven Kontraktion von Muskeln; oder aus der Entspannung geeigneter Muskeln, die das uns haltende Gleichgewicht im Körper auflöst und somit die stets einwirkende Schwerkraft als Impulsgeber nutzt. Im zweiten Fall wird die Kontraktion der Muskeln lediglich für die weitere Beschleunigung in der folgenden Bewegung nötig. Interessant ist demnach die zeitliche Abfolge: ökonomische Bewegung kann dann entstehen, wenn vor der aktiven Muskelarbeit der funktionelle Gegenspieler loslassen kann. Es entsteht ein Fließgleichgewicht aus Spannung und Entspannung. 

Um dieses effiziente Muster für sich nutzbar zu machen, bedarf es einiger Voraussetzungen, die sich wiederum wechselseitig beeinflussen. Nach Ida Rolf sind drei Dinge hervorzuheben: Balance, Länge und optimale Unterstützung. Nur aus einer ausgewogenen Balance heraus lässt sich diese auch kontrolliert und zielführend lösen. Diese Balance bezieht sich dabei sowohl auf die knöcherne Anordnung des Skeletts, als auch auf die Spannungen im faszialen Gewebe (s. dazu das Rolfing-Logo). Insbesondere das fasziale Gewebe muss dazu eine adäquate Länge zulassen können. Faszien, die wenig oder suboptimal belastet werden, neigen dazu, immobil zu werden. Sie halten also Muskelgewebe an einer Stelle und lassen eine völlige Entspannung gar nicht erst zu. Das Fließgleichgewicht der Spannungen ist gebrochen und der Körper bekämpft Spannung mit noch mehr Spannung. Die erforderliche Länge wird der Körper jedoch nur zulassen wollen, wenn er sich seiner Position im Raum sicher ist und keine Gefahr besteht, umzufallen. Optimale Unterstützung kann er insbesondere aus einem guten Kontakt der Füße zum Boden gewinnen, aber auch aus einer guten Raumwahrnehmung (Gleichgewicht u.a.). 


"When flexors flex, extensors extend."
Ida Rolf


Bezogen auf das obige Beispiel des Gehens bedeutet dies, dass der Schritt durch eine latente Gewichtsverlagerung nach vorne und gleichzeitige Entspannung eines Beines nach hinten (schwere Ferse) entstehen kann. Dazu sollte das Körpergewicht gut auf einem Bein gehalten werden und die Vorderseite des Beckens muss lang werden können. Diese Bewegung ist von außen nur latent zu beobachten, da sich diese Bewegungssequenz zeitlich vor die von äußerlich erkennbare Bewegung setzt - ein sogenanntes Pre-Movement (vorbereitende Bewegung). Gelingt es, dies intuitiv geschehen zu lassen, können wir im Rolfing-Kontext von einer normalen Funktion des Körpers in Bewegung sprechen (Normal Function gem. Hans Flury).


All die oben genannten Aspekte werden strukturiert und individuell während der Rolfing-Sitzungen thematisiert. Durch die manuelle Arbeit mit dem Gewebe werden Beweglichkeit und Mobilität gewonnen, die im weiteren Verlauf mit der effizienten Bewegungsschulung verbunden werden. Der aufrechte Stand ist dabei die Ausgangsposition und auch der Referenzpunkt, jedoch nicht das Ziel selbst (s. Blogartikel: Körperhaltung).





 Januar 2024